Der Mann, der seine Kapitel selbst schreibt
Local, Entrepreneurship, Culture
Bücher sind kein geringer Teil des Glücks, besagt ein altgermanisches Sprichwort. Andreas Pätzold hat sich diesen Grundsatz zu Herzen genommen und im Zürcher Kreis 10 als Quereinsteiger eine eigene, kleine Buchhandlung eröffnet. Dies mitten in einer Zeit, in welcher der stationäre Buchhandel durch eCommerce zunehmend unter Druck geraten scheint und die Pandemie Jungunternehmer Steine in den Weg zu legen vermag. Ein fesselndes Porträt über das Wagnis Entrepreneurship, die Berufung Buchhändler und einen verwirklichten Traum.
Eine Grüne Wiese in Berlin, Bücher und Kaffee
«Was wäre es denn, das Ding, das mich erfüllen würde?», diese Frage hat sich Andreas Pätzold unzählige Male gestellt. Nachdem er seine Karriere als Manager bei einem grossen Schweizer Konzern knapp 50-jährig beendet, nimmt er sich bewusst Zeit, um seine nächste Herausforderung zu definieren. Klar ist für ihn nur eines: Weg von Umsatzdruck und Firmenpolitik. Hin zu mehr Freude, Sinnhaftigkeit und einer zu Tätigkeit, welche sich nicht per se als Arbeit definieren soll. Die Entscheidung, sein Glück im Buchhandel zu finden, ist Resultat eines langen Denkprozesses. Geholfen hat schlussendlich auch ein finaler Impuls seiner Ehefrau.
Dass er sich auf einer völlig grünen Wiese befand, was seine Zukunft anbelangte, bezeichnet Andreas Pätzold rückblickend als eines der grössten Geschenke der letzten Jahre. Eine Ausgangslage die zum Überlegen zwingt, aber keine Grenzen setzt. Als grosser Fan der deutschen Metropole Berlin hat er sich immer wieder von deren unkonventionellen Kreativität inspirieren lassen. Bücher und Kaffee spielen dabei meist eine zentrale Rolle. Langsam setzt sich das Puzzle zusammen und die Idee eines eigenen Buchladens, allenfalls mit integriertem Kaffee, nimmt Form an. Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, besuchte Andreas Pätzold einen Quereinsteiger-Kurs für angehende Buchhändler, der vom Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband angeboten wird.
Als in unmittelbarer Nähe der eigenen vier Wänden und im Herzen des Zürcher Kreis 10 ein Ladenlokal frei wird, scheint dies mehr als nur ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ein Entscheid muss also her. Um die Gedanken zu ordnen reist Andreas mit seiner Familie - nach Berlin. «Andreas, mach es oder lass es sein. Ganz einfach!». Das sind die Worte, mit denen ihn seine Ehefrau in den letzten Urlaubstagen konfrontiert. Diese sind Signal genug: Das Projekt Kapitel 10 wird im August 2019 zum Leben erweckt.
Wie wählst du aus zwei Millionen Büchern die Richtigen aus?
Da steht Andreas Pätzold also plötzlich in seinem eigen Buchladen und weiss: «Bis Anfang November muss ich Bücher verkaufen können». Das Weihnachtsgeschäft darf auf keinen Fall verpasst werden. Dies ist dem langjährigen Verkaufsmanager sofort klar. Es folgen hektische Wochen. Konzept, Mobiliar, Behördengänge und als wichtigstes Puzzleteil die Zusammenstellung des ladeneigenen Buchsortiments.
Die entscheidende Frage lautet nun also: «Wie stelle ich ein kleines aber attraktives Buchsortiment zusammen?» Auf die Hilfe der Lieferanten kann Andreas Pätzold dabei nur bedingt zählen. Der grösste Schweizer Buchlieferant versorgt ihn zwar mit einem umfangreichen Katalog. Aus den rund zwei Millionen Titel muss er jedoch seine Favoriten selber selektionieren. Eine Vorauswahl oder Empfehlung gibt es dabei nicht. Nur kurze Zeit später kommt ein rund zwei Meter hoher Stapel an Katalogen mit Verlagsnews dazu - pünktlich zum Aufgleisen des Weihnachtsgeschäftes. Diese schiere Fülle von möglichen Titeln zwingt ihn zu fokussieren. Aus diesem Fokus ergibt sich, Excel und kurzen Nächten sei Dank, das Konzept für die Titelauswahl im Kapitel 10. Relativ schnell ist klar: Ins Sortiment kommen nur Neuheiten - keine Klassiker, keine Evergreens und keine Standardwerke. Weiter muss in einem Quartierladen, neben Romanen, Platz für Kinder- und Jugendliteratur sein. Das Ganze wird abgerundet mit einer feinen Auswahl an Sach- und Kochbücher.
Bis heute ist aus diesem Vorgehen ein Sortiment von rund 2'000 Titeln entstanden. Neben dem konsequenten Fokus auf Neuheiten ist es Andreas Pätzold wichtig, weiblichen Autorinnen eine Plattform zu geben und seine Kunden mit persönlichen Buchtipps zu begeistern. Schweizer und deutsche Autorinnen und Autoren machen dabei einen überproportionalen Anteil aus. Die laufend wachsende Liste dieser Tipps kann selbstverständlich auch online eingesehen werden.
Wie viele Bücher liest du im Jahr?
Ich versuche, rund ein Buch pro Woche zu lesen. Das coole ist, ich habe auch Leute, die für mich Romane lesen und mich so auf dem Laufenden halten.
Wann wirst du selbst mal ein Buch schreiben?
Ich weiss was ich kann, daher werde ich nie ein Buch schreiben. Ich sehe mich eher als kritischer Sparringpartner für Autorinnen und Autoren und solche, die es noch werden möchten.
Was begeistertet dich am Dasein als Buchhändler?
Der Fakt, dass der Buchkauf immer eine gewisse Intimität beinhaltet. Die Wahl eines Buches gibt automatisch etwas über die Interessen des Kunden preis. So entstehen nicht zuletzt auch Gespräche von unschätzbarem Wert.
Kaufen wir nicht bald alle sowieso nur noch eBooks?
Der eBook-Markt macht keine zehn Prozent des gesamten Buchmarktes aus. Zudem gingen die Zahlen im vergangenen Jahr erstmals leicht zurück. Ich bin überzeugt, dass das Buch als Solches einen starken Wert in unserer Gesellschaft hat - und dies wird auch so bleiben.
Wie kann man gegen die grossen Player im Buchhandel bestehen?
Mit Persönlichkeit, einem feinen und aktuellen Sortiment und viel Herzblut. Zudem ist der Support aus der Branche unglaublich. Es kommt vor, dass gerade grosse Händler mit zahlreichen Filialen ihren Kunden aktiv einen Besuch bei mir empfehlen - das motiviert ungemein!
Wo führt der Weg mit dem Kapitel 10 noch hin?
An erster Stelle steht für mich der Spass und die Freude an der täglichen Arbeit. Diese Faktoren sind für mich wesentlich zentraler als eine allfällige Diskussion über Wachstum. Aber natürlich will ich in den Bereichen Online-Handel, Veranstaltungen und auch Gastronomie auf keinen Fall stehenbleiben sondern mich laufend weiterentwickeln.
Der Spass muss im Fokus stehen, nicht das Wachstum!
Ohne Online funktioniert es nicht - das ist auch gut so!
Als Neo-Buchhändler ist für Andreas Pätzold von Beginn an klar: Der Online-Vertrieb ist Bestandteil eines funktionierenden Konzeptes. Der digitale Verkaufskanal soll den Laden ergänzen, nicht kannibalisieren. Es ist genau diese Haltung, welche ihn in der schwierigen, langwierigen und unsicheren Phase der Covid-Pandemie am Leben erhält. Trotz Lockdown schafft es der Neu-Unternehmer, die digitale und analoge Welt zu verbinden, indem er mit seinem Fahrrad Bücher ausliefert und zahlreichen Leuten eine kleine Freude in den tristen Pandemie-Alltag zaubert.
Ein Mix aus Instagram-Bilder, welche den Inhaber persönlich beim Ausliefern von Büchern zeigen, sowie eine laufend wachsende Adressdatenbank für die monatlichen Buchtipps, helfen, Absatz und Umsatz in gewisser Weise zu stabilisieren. Das vielleicht Wichtigste an dieser Phase ist jedoch ein eintretender Nebeneffekt. Durch seine Leidenschaft, Bücher persönlich vorbeizubringen und den Leuten eine temporäre Ausflucht aus der Pandemie zu bieten, wächst die Bekanntheit von Kapitel 10 spürbar. In gewisser Weise helfen also die Online-Medien sowie der digitale Bestellservice auch, die Marketingkosten tief zu halten.
Heute darf Andreas Pätzold wieder regelmässig Kunden in seinem Laden begrüssen. Und er erfreut sich dabei auch an einer Art Stammkundschaft. Auch wenn Bücher problemlos online bestellt werden können, so ist er sich sicher, dass der Gang zum Buchladen «eine ganz persönliche, bewusste und in gewisser Weise auch intimer Handlung darstellt». Denn eine Buchwahl sage immer auch etwas über den aktuellen Zustand der Seele aus. Die Gespräche mit Kunden sind daher oft vielschichtiger und tiefgründiger, als eine blosse Online-Rezension.
Es kommt daher nicht ganz überraschend, dass Andreas seine Buchhandlung auch als Ort der Begegnung und Inspiration versteht. Um dies aktiv zu unterstützen, organisiert er regelmässig Events, Lesungen und Vernissagen mit neuen, spannenden Autorinnen und Autoren - gerne auch in Kooperation mit anderen Quartierläden. Dadurch kann er nicht nur die Freude an der Literatur fördern, sondern dem Stadtkreis auf kulturelle Art und Weise etwas zurückgeben.
Darf's noch ein Cappuccino sein?
Ein guter Kaffee zu einem fesselnden Roman - das passt. Gleiches gilt für den morgendlichen Schwatz oder das Stöbern durch die Regale. Als passionierter Kaffeetrinker und «Barista in the making» hat Andreas Pätzold daher bereits aufgerüstet. So gibt es bei Kapitel 10 nicht bloss Bücher, sondern auch mit Liebe zubereitete koffeinhaltige Heissgetränke. Dabei wird weder bei der Wahl der Maschine noch bei der Verwendung der Kaffeemischung etwas dem Zufall überlassen - letztere stammt nämlich vom Röstlabor in Höngg, womit der lokale Bezug wider hergestellt wäre. Dieser nächste Schritt in der Entwicklung des Kapitel 10 steht symbolisch für die Philosophie, Leute zusammenzubringen und das Leben ein bisschen mehr zu geniessen.
Wer am Nachmittag vorbeikommt, der kann sich gar ein gemütliches Plätzchen an der Sonne aussuchen, um den neusten Buchtipp gleich nach dem Kauf «anzulesen». An Regentagen darf man es sich auf einem der Sofas bequem machen um seinen Kaffee zu geniessen. Es braucht dann nicht mehr viel Fantasie, um sich in einer wohligen Stube mit grosszügiger Bibliothek zu wähnen.
Für alle UP. Magazine Leser, die sich nach einem guten Buch für laue Sommernächte sehnen, hat Andreas Pätzold seine vier aktuellen Favoriten zusammengetragen.
- Domenico Müllensiefen - Aus unseren Feuern
Sie sind jung, und sie heißen Heiko, Mandy, Jana oder Raik. Sie sind die Witzfiguren und die Arbeitstiere unserer Gesellschaft. Sie sind müde, sie sind wütend, sie rauchen. Doch sie leben jetzt. Aus ihren Feuern. Ein grandioser Arbeiter- und Nachwenderoman.
- Lu Bonauer - Die Liebenden bei den Dünen
Romy und Silas wollen zusammen sterben. Vor langer Zeit hatten sie sich dieses Versprechen gegeben. Gemeinsam sitzen sie vor ihrem Haus in den Dünen, halten sich an den Händen, bereit zu gehen. Im Kern eine unglaublich schöne, ergreifende Liebesgeschichte.
- Nicole Weis - Elbe 511
Die Lebensgeschichte eines Mannes, der zweimal aus der DDR flüchtete. Anhand der Lebensgeschichte ihres Vaters rekonstruiert Nicole Weis auf brillante Weise die jüngere deutsche Geschichte.
- Mireille Zindel - Die Zone
Cyrill taucht. Für sein Leben, um sein Leben. Immer tiefer, immer extremer, denn es gilt, die Rekorde in der Apnoe-Disziplin No Limit zu brechen, es gilt, sich selbst zu entfliehen. Hochverdichtet und ebenso poetisch wie rhythmisch schafft Mireille Zindel mit „Die Zone“ einen im Wortsinn atemberaubenden Roman.
Das meint UP. Magazine
Ein kleines Stück Berlin und doch ganz viel Zürich. Dazu guter Kaffee, guter Bücher und ein Eigentümer, der sich sowohl als Barista als auch als Ratgeber für Lesefreudige versteht. Herz was willst du mehr? Ein Besuch im Kapitel 10 lohnt sich für alle die Freude am Lesen haben, oder diese wiederentdecken wollen. Und da sich die Buchtipps von Andreas Pätzold nicht an den allgegenwärtigen Bestsellerregalen orientieren, ist eine literarische Horizonterweiterung garantiert. Ein Charmegewinn für den gesamten Kreis 10, weit über dessen Grenzen hinaus!